Teil 45
In den nächsten Wochen entwickelte sich unser Tagesablauf zu einer gewissen Routine – eigentlich nichts Neues, aber anders.
Wenn ich die Buben morgens verabschiedete, wirkten sie bedrückt. “Sag’ liebe Grüße an den Papa!”
Sie telefonierten mit ihm und gelegentlich nahm ich sie auch mit zu einem Besuch.
Beide Söhne waren inzwischen in einem Tanzkurs für Fortgeschrittene. Sonntags war Tanztee und da es meistens an jungen Männern mangelte, wurde nach dem Tanzunterricht darum gebeten, dass man doch am Sonntag bitte kommen möge. Für meine Kinder war es eine angenehme Ablenkung von unserem neuen Alltag.
Unsere Freunde sah ich immer seltener. Niemand belastete sich gerne mit den unschönen Dingen des Lebens und Problemen anderer, aber leider gehören sie zum Leben und fast jeder lernt sie auf die eine oder andere Weise kennen. Es kamen oft Anrufe und man erkundigte sich nach Willis Befinden. Meine Antworten bewegten sich immer zwischen – es könnte besser gehen und – wir geben die Hoffnung nicht auf!
Es gab aber auch Menschen, die wussten wie sie helfen konnten, ohne lange nachzufragen. Es war wieder einmal die Mutter von Ralphs Freund Guido, die ihre Hilfe angeboten hatte. Sie wohnten in unserer Nachbarschaft und ich nenne sie, hoffentlich mit ihrem Einverständnis “Supermutter”.
Ihr Spruch war immer: “Ich koche für fünf – das reicht auch für zwei Kinder mehr!”
Meine Dankbarkeit ist ihr gewiss.
Willis Infusionen besorgte ich, seit er sie bekam, in derselben Heusenstammer Apotheke. Die beiden Apothekerinnen waren sehr hilfsbereit und unterstützten mich in jeder nur möglichen Art und Weise. Es entstand ein freundschaftlicher Kontakt, für den ich den beiden Damen heute noch dankbar bin.
In der Klinik Dr. Frühauf wurde mein Mann bestens versorgt. Es wurde alles für ihn getan. Die Schwestern “liebten” ihn und unterstützten ihn und uns dabei, diese schwere Zeit zu bewältigen. Willi hatte ein Problem beim Anlegen einer neuen Infusionsnadel. Obwohl er immer noch einen guten Appetit hatte, war er sehr abgemagert. Dies war keine gute Voraussetzung zum Anlegen von Nadeln. Es gab eine Schwester, die er bevorzugte. “Sie ist die Einzige, die mir nicht wehtut”, sagte er mir. “Kannst du mit Dr. Frühauf reden, dass er mir nur diese Schwester schickt?” Sicher konnte ich das, und ich hatte auch Verständnis für sein Problem. Es war aber auch seine Angst vor den Schmerzen, die andere Schwestern verunsicherte. Man wollte niemandem wehtun, aber man hoffte auf Verständnis.
Die von ihm bevorzugte Schwester kam sogar an ihren freien Sonntagen, um Willi die Infusionen anzulegen. Sie besaß offensichtlich genug Routine, um mit schwerkranken Patienten umgehen zu können. Die Angst meines Mannes vor den Schmerzen konnte sie nicht aus der Ruhe bringen.
Diese Frau und das Verständnis aller anderen war für uns eine große Hilfe.
Willi vertrieb sich die Zeit mit Fernsehen, z.B. Sport. Sein Interesse am Weltgeschehen hatte nachgelassen. Sein größtes Interesse galt immer noch der PERRY RHODAN-Serie. Die Exposés lagen bis 1209 vor sowie ein Konzept bis Band Nr.1300. Ich unterstützte ihn so gut es ging. Die Leserpost brachte ich mit in die Klinik, damit er sie lesen und mit mir gemeinsam bearbeiten konnte.
Willi wurde nun schon einige Wochen in der Frühauf-Klinik versorgt. Eine Besserung war nicht zu erkennen. Es zeigte sich immer deutlicher, dass es keine Hoffnung auf Heilung geben würde. Dies zu akzeptieren, war nur schwer möglich. Wenn mein Mann den Wunsch nach Abwechslung in seiner Ernährung äußerte, versuchte ich, ihm jeden Wunsch zu erfüllen. Einmal hatte er Appetit auf Pizza, von einem ganz bestimmten Lokal in Offenbach. Ich brachte ihm seine Wunschpizza, auch wenn sie nicht mehr ganz so heiß war - sie schmeckte ihm. Ein anderes Mal fragte er nach Frikadellen. "Ich möchte gerne noch einmal deine Frikadellen essen!" "Was heißt 'noch einmal'? Ich backe dir noch jede Menge Frikadellen. Wenn ich heute Nachmittag komme, bringe ich dir welche mit!"
Als ich zur Mittagszeit nach Hause fuhr, besorgte ich bei unserem Metzger das Fleisch. Zu Hause angekommen, sah ich nach der Post. Es war wieder ein großer Umschlag mit Leserpost gekommen. Alle Leserbriefe, die an den Verlag gesendet wurden, waren geöffnet und gelesen worden. Man wollte informiert sein und wissen, wie die Stimmung der Leser war. Während ich noch am Sortieren war, klingelte es an der Tür. Oma und Opa Voltz wollten nach uns sehen. Wir freuten uns immer über ihren Besuch. Es kam, wie ich es befürchtet hatte. Als ich meiner Schwiegermutter sagte, dass ich Frikadellen zubereiten möchte, weil Willi sich welche gewünscht hatte, übernahm sie sofort das Regiment und entschied, dass sie das Fleisch zubereiten würde, damit ich mich um andere Dinge kümmern kann. Ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass Willi meine Frikadellen wünschte, weil sie ihm besser schmeckten. Ich bedankte mich bei ihr und kümmerte mich um die Söhne. "Wie war´s in der Schule?" "Geht so...", war die Antwort. Nach dem Schulwechsel hatten sich die Leistungen von Stephen und Ralph ins Negative entwickelt. Ich hoffte, dass man in der Schule etwas Verständnis für die Situation aufbringen würde. Da wir derzeit andere Sorgen hatten, stand die Schule etwas hintenan.
Marion gab unseren Buben Unterstützung beim Lernen. Sie war vor vielen Jahren unser Babysitter und vertraut mit ihnen. Sie bestätigte mir, dass beide keine Probleme hätten, den Stoff zu verstehen und zu bewältigen. Die Noten sagten etwas anderes aus. Ich war mir jedoch sicher, dass meine Söhne die Versäumnisse wieder aufholen können, wenn die Situation eine andere sein würde.
Mit einem herzlichen "Dankeschön" an meine Schwiegereltern und der Bitte an meine Söhne, dass sie ihre Pflichten nicht vergessen sollen, machte ich mich auf den Weg zu meinem Mann. Die Tageszeitung in der Hand sowie einen Teller, gefüllt mit Frikadellen, betrat ich Willis Zimmer. Er lächelte, was mir zeigte, dass es ihm einigermaßen gut ging.
Wie immer fragte Willi, ob zu Hause alles in Ordnung sei. "Alles ist gut. Die Kinder wollen dich heute noch anrufen", sagte ich ihm. Er freute sich darauf.
"Gibst du mir bitte den Teller mit den Frikadellen. Ich habe nur etwas Grießbrei gegessen, damit noch Platz für die Frikadellen bleibt." Willi öffnete die Folie und sagte: "Die sind nicht von dir. Die hat Hanne gemacht, das sehe ich!" Ich fühlte mich schuldig und erklärte Willi die Situation. Ich versprach ihm, so schnell wie möglich neue Frikadellen zu backen.
Warum ich über solch eine Banalität schreibe? Ich hatte danach keine Chance mehr, für meinen Mann die Lieblingsfrikadellen zuzubereiten. Auch wenn es sich nur um eine Kleinigkeit handelte, mein schlechtes Gewissen verfolgt mich bis heute!
Oft klingelte das Telefon, wenn ich bei meinem Mann war. Die Autoren meldeten sich, Winfried Blach, der damalige Geschäftsführer, rief an, um zu fragen wie es "seinem wichtigsten Autor" geht sowie Verlagsangestellte, wenn sie Fragen hatten oder einfach nur wissen wollten, wie der Herr Voltz oder Willi sich fühlte. Alle hofften, ihn bald wieder in ihren Reihen begrüßen zu können.
Die Wochen vergingen, ohne dass sich unser intensiver Wunsch nach einer Besserung erfüllt hätte. Ein Jahr kämpfte Willi jetzt gegen diesen schrecklichen Tumor. Außer Schmerzbekämpfung gab es keine Hilfe. Eine der Krankenschwestern fragte mich: "Warum lassen sie ihrem Mann nicht Morphium spritzen? Er hätte nicht so starke Schmerzen." Meine naive Antwort war: "Davon wird man doch abhängig!" Ich glaubte immer noch daran, dass es eine Besserung geben könnte und Willi dann möglicherweise ein ganz anderes Problem haben würde. Ich hatte es in meiner Familie erlebt, dass zwei Menschen durch falsche Diagnosen und falsche Medikation in die Abhängigkeit geraten waren. Das wollte ich meinem Mann ersparen. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass die von Dr. Frühauf verabreichten Medikamente ausreichend waren.
Zu meiner Überraschung fragte mich mein William, wie ich ihn seit Jahren nannte: "Glaubst du, wir schaffen´s morgen nochmal ins Autokino? Es wird der Film mit diesen kleinen Monstern gezeigt - Gremlins."
Es war Montag, der 19.März. Der Geburtstag von Willis Vater, mit dem er an diesem Tag zum letzten Mal gesprochen hatte.
"Ich frage Dr. Frühauf. Wenn er keine Einwände hat, hole ich dich ab", versprach ich ihm.
Er hatte nichts dagegen. "Falls es Probleme geben sollte, können sie jederzeit kommen. Aber auf jeden Fall muss ihr Mann am nächsten Morgen zurück sein!"
“Selbstverständlich” versprach ich ihm.
Am nächsten Tag fuhr ich wieder in die Klinik. Da wir abends ins Kino fahren wollten, brachte ich Willi noch frische Kleidung mit und natürlich seine Offenbach-Post. Ich klopfte und betrat das Zimmer. Er lag wie immer auf der rechten Seite, drehte sich aber nicht zu mir um. Ich ging zu ihm, begrüßte ihn und legte die Zeitung auf seinen kleinen Tisch.
"Du brauchst mir keine Zeitung mehr mitzubringen!" Seine Worte erschreckten mich, weil ich auch den Eindruck hatte, dass er sich verändert hatte. Auf meine Fragen bekam ich keine Antwort. Ich vermutete, dass er nicht gut geschlafen hatte und ihn seine Gedanken in eine depressive Stimmung versetzt hatten. Meine Versuche, ihn positiv zu stimmen, klangen eher hilflos. Ich setzte mich zu ihm und legte meinen Kopf an seine Schulter. Er streichelte meinen Arm. So lagen wir wortlos eine ganze Weile, bis an der Tür geklopft wurde und Dr. Frühauf das Zimmer betrat. "Soll ich später kommen?" fragte er. Wir verneinten und baten ihn hereinzukommen.
Als es Zeit wurde nach Hause zu fahren, um nach den Buben zu sehen, fragte ich Willi, ob er noch einen bestimmten Wunsch hat. "Nein danke, ich bekomme hier alles was ich brauche. Wenn´s dir keine Umstände macht, kannst du vielleicht den Koch fragen, ob er mir außer der Reihe einen Grießbrei kocht. Ich hätte Appetit darauf. Er soll ihn aber nicht anbrennen lassen wie das letzte Mal!"
Ich sprach mit dem Koch, erwähnte jedoch nicht Willis Bemerkung. Als ich nachmittags in die Klinik zurückkam fragte ich ihn, wie der Grießbrei geschmeckt hatte. "Gut", sagte Willi, "er war nicht angebrannt."
"Was ist mit deinem Kinowunsch? Fühlst du dich gut genug?" wollte ich wissen. "Ich werde es schon schaffen", meinte Willi.
Später fuhr ich nach Hause, um die Söhne zu versorgen. Sie wollten nicht mit ins Kino. Was der Grund dafür war, kann ich heute nicht mehr sagen. Beide freuten sich als sie hörten, dass der Papa nach dem Kinobesuch mit nach Hause kommt und über Nacht bleibt.
Als es an der Zeit war, wieder in die Klinik zu fahren, besprach ich mit Stephen und Ralph noch den Ablauf für den Rest des Tages. Zum Abendessen waren sie bei Freunden eingeladen. Es beruhigte mich zu wissen, dass sie gut versorgt waren und auch ein wenig Ablenkung hatten.
In der Klinik angekommen, half ich Willi beim Ankleiden. Er war sehr kraftlos geworden. Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, musste ich doch eingestehen, dass seine Kräfte innerhalb kurzer Zeit noch mehr nachgelassen hatten. Sein Zimmer war im ersten Stock und am Ende des Ganges. Zum Aufzug musste man einige Meter gehen. Er bat mich, einen Rollstuhl zu besorgen. Ich spürte, was dies für ihn bedeutete. Am Auto angekommen, half ich Willi beim Einsteigen. Als ich neben ihm saß, sah ich ihn an und fragte: "Schaffen wir´s?" "Klar, fahr los", antwortete er schwach.
Als wir am Autokino ankamen, wurde uns gesagt, dass das Programm geändert worden war und wir den gewünschten Film in Mühlheim sehen könnten. "Das ist mindestens eine halbe Stunde Fahrt. Schaffst du das?" fragte ich Willi. "Jetzt sind wir schon hier. Den Rest schaffen wir auch noch. Fahr einfach los!" Ich folgte seiner Anweisung und hoffte, dass alles gutgehen würde.
Wir fuhren nach Mühlheim und ich war erleichtert, dass ich in der Nähe des Kinos einen Parkplatz finden konnte. Wir kauften Tickets und schauten uns den Film 'Gremlins' an. Ein paar Minuten vor dem Ende des Films sagte Willi: "Lass uns gehen. Ich möchte nicht mit der ganzen Meute das Kino verlassen." Ich spürte, dass diese Aktion seine Kräfte überschritten hatte. Bereits im Kino hatte Willi seinen Gürtel geöffnet und ebenso den Knopf seiner Jeans. Er konnte keinerlei Druck auf seinem Bauch ertragen. Nachdem ich seine Rückenlehne wunschgemäß justiert hatte, fuhren wir nach Hause. Als wir an unserem Haus angekommen waren, wollte ich ihm aus dem Auto helfen. "Warte noch einen Moment", bat er mich. Er wollte nicht, dass der Nachbar, der gleichzeitig mit uns eingeparkt hatte, sehen konnte, wie gebrechlich er war. Die Buben begrüßten ihren Papa. An ihrem Verhalten und ganz besonders an ihren Augen konnte ich erkennen, dass sie sehr bedrückt waren. Willi wollte nur noch in seinem Bett liegen. Die fünfzehn Stufen in das obere Stockwerk waren für ihn eine Herausforderung. Er lehnte jedoch jede Unterstützung ab. "Ich schaffe das schon, es dauert halt...!" Nachdem er die fünfzehn Stufen 'erklommen' hatte, machte er noch eine Pause am Türrahmen zum Schlafzimmer. Willi setzte sich auf den Boden und ruhte sich für ein paar Minuten aus. Mein Angebot, ihm zu helfen, lehnte er ab. Wir waren erleichtert, als Willi endlich das Bett erreicht hatte. Ich half ihm beim Auskleiden und gab ihm seine Spritze.
Mit dem Versprechen mich zu wecken, falls er Hilfe benötigt, schlief mein Mann bald ein. Am nächsten Morgen fuhren wir wieder in die Klinik. Im Laufe des Vormittags kam eine junge Krankenschwester. Sie brachte eine Waage mit und bat Willi, sich darauf zu stellen. "Sie haben zugenommen, Herr Voltz", sagte sie. Diese Aussage überraschte mich. Noch überraschter war ich, als mein Mann den Kopf der jungen Frau in die Hände nahm und sie auf den Kopf küsste. Er freute sich und sah die Gewichtszunahme als gutes Zeichen an.
Der Funken Hoffnung wurde uns schnell genommen. Es stellte sich heraus, dass sich Flüssigkeit im Bauchraum gestaut hatte.
In der Nacht von Donnerstag auf Freitag rief mich Willi an. Er war beunruhigt, weil er auf dem Weg zum Bad feststellen musste, dass sein rechtes Bein sehr angeschwollen war und er kaum in der Lage war, das Bad zu erreichen. Ich fragte ihn, ob er schon die Nachtschwester angeklingelt hatte. "Nein", sagte er, "ich will hier mitten in der Nacht keinen Aufstand machen." "Das ist aber der Grund für deinen Aufenthalt in der Klinik. Falls du Hilfe brauchst, darfst und musst du klingeln."
Ausgerechnet an diesem Wochenende hatte sich Dr. Frühauf Urlaub genommen. Er wurde vertreten von dem Arzt, der seit ein paar Jahren in der Frühauf-Klinik angestellt war. Ich hoffte, dass er meinem Mann helfen kann, ahnend, dass es kritisch ist und unsere Hoffnungen schwinden würden.
Es war inzwischen 5:00 Uhr morgens und das Telefon klingelte wieder. Willi rief an, um mir zu berichten, dass jetzt auch sein linkes Bein angeschwollen sei. Er bat mich, so schnell wie möglich zu ihm zu kommen. Ich sprang unter die Dusche und kleidete mich an. Bevor ich die Söhne weckte, bereitete ich das Frühstück für sie zu. Sie versprachen mir, sich um alles zu kümmern und rechtzeitig in der Schule zu sein.
In der Klinik angekommen, wollte ich sofort zu meinem Mann. Eine Schwester rief mich zurück und sagte mir, dass der Arzt mich zuvor sprechen möchte. Sie begleitete mich ins Sprechzimmer. Ich erkannte an ihrem Verhalten und auch am Blick des Arztes, dass es keine positiven Nachrichten geben würde. Nachdem ich Platz genommen hatte, eröffnete der junge Arzt das Gespräch mit den Worten: "Es tut mir sehr leid, Frau Voltz, aber wir können Ihrem Mann nicht mehr helfen."
Mit dem Bewusstsein, dass der Arzt die Wahrheit spricht, wollte ich diese Wahrheit nicht akzeptieren und sagte, dass es doch eine Möglichkeit geben müsse, meinem Mann zu helfen. Irgendwie, irgendwo! "Wenn Sie einen Arzt finden, der Ihrem Mann helfen kann, werden wir Sie in jeder nur möglichen Art und Weise unterstützen!" versprach er mir.
Ich bedankte mich und sagte ihm, dass ich jetzt zu meinem Mann möchte. Als ich in Willis Zimmer kam, sagte er als erstes: "Da bist du ja endlich:” Sein Anblick erschütterte mich. Auch Willi hoffte, dass wir einen Arzt finden würden, der ihm helfen könnte. Ich versprach ihm, nach Hause zu fahren, um alle Möglichkeiten auszuschöpfen.
Als erstes rief ich die Klinik in Frankfurt an, in der im Oktober 1981 die Operation stattgefunden hatte. Ich erreichte einen Arzt, der damals einer der behandelnden Ärzte war und sich auch an diesen Patienten noch erinnern konnte. Nachdem ich ihm unser Problem geschildert hatte, blieb ihm nur, mir sein Bedauern auszusprechen und die Auskunft, dass sie leider nicht weiterhelfen könnten.
Ich erinnerte mich an einen Arzt in Hamburg. Es wurde viel über ihn geschrieben - Positives und Negatives. Einer Freundin von uns hatte er in einer fast hoffnungslosen Situation geholfen. Ich fand die Telefonnummer heraus und rief an. Er hörte sich unsere Geschichte an und fragte, ob mein Mann bereits operiert sei. Als ich dies bejahte, lehnte er eine Behandlung ab, da er nur nicht operierte Patienten behandeln würde. Welches Krankenhaus würde noch in Frage kommen? Die Universitätsklinik in Frankfurt fiel mir ein. Ich rief dort an und bekam die Information, meinen Mann im Krankenwagen nach Frankfurt transportieren zu lassen. Ich fuhr zurück in die Frühauf-Klinik und besprach den weiteren Verlauf mit dem Arzt.
Während wir auf den Krankenwagen warteten, klopfte es an der Tür. Eine meiner beiden Apothekerinnen aus Heusenstamm stand vor der Tür. Als ich kurz zu Hause war, kam ein Anruf von der Apotheke. Die Damen wollten wissen, wie es meinem Mann geht. Ich schilderte die Situation und sagte, dass Willi mit dem Krankenwagen nach Frankfurt in die Uni-Klinik gefahren wird. Eine der beiden fuhr sofort in die Frühauf-Klinik nach Offenbach, um mich nach Frankfurt zu fahren. "Sie sollten jetzt kein Auto fahren", meinte sie.
Willi wurde in den Krankenwagen transportiert. Der Fahrer bot mir an, neben ihm Platz zu nehmen. "Ihr Mann möchte, dass Sie in seiner Nähe sind. Wir machen eine Ausnahme!"
Ich bedankte mich bei der Apothekerin. Sie wünschte mir viel Kraft.
In der Uni-Klinik angekommen, wurden wir in einen Raum mit vielen schwerstkranken Menschen gebracht. Meinem Mann ging es schlecht und ich machte mir Vorwürfe, dass ich ihm diese Situation zugemutet hatte. Nach einer längeren Wartezeit wurde Willi zur Untersuchung abgeholt. Es dauerte eine Weile bis ein Arzt zu mir kam, um mir das Ergebnis zu überbringen.
"Es tut mir sehr leid, aber wir können ihrem Mann nicht helfen. Sie werden nirgends einen Arzt finden, der diesen Tumor entfernen wird. Ihr Mann würde auf dem Tisch verbluten!"
Er verordnete noch Infusionen, die auch das Blut verdünnen würden. Er hoffte, dem Patienten damit etwas Erleichterung verschaffen zu können und schickte uns wieder in die Frühauf-Klinik zurück. Willi war müde und schlief ein. Ich vermutete, dass man ihm schmerzlindernde Medikamente verabreicht hatte. Was sonst konnte man auch noch tun?
Ich nutzte seine Ruhephase, um nach Hause zu fahren und nach den Söhnen zu sehen. Eigentlich war geplant, dass ich heute für Stephen einen Geburtstagskuchen backe. Er hatte am nächsten Tag seinen sechzehnten Geburtstag. Oma und Opa wollten kommen und es war geplant, dass wir den Papa im Krankenhaus besuchen.
Ich sprach mit unseren Buben über den heutigen Vormittag und die kritische Situation, wollte ihnen aber auch nicht jede Hoffnung nehmen. Meine Gedanken drehten sich im Kreis und mir war klar, dass ich selbst nicht bereit war die Realität zu akzeptieren.
Das Telefon klingelte. Mein erster Gedanke war - die Klinik ruft an!
Es war Stephens Freund Stefan. Er spielte Handball und Stephen war seit einiger Zeit auch Mitglied in diesem Team. Stefan fragte, ob Stephen heute aushelfen könnte, sie hätten nicht genug Spieler.
"Was soll ich machen?" fragte Stephen. Ich stellte fest, dass ich mich in letzter Zeit immer häufiger fragte - was würde Willi dazu sagen?
Meine Antwort war: "Das musst du entscheiden. Wenn du dich dazu in der Lage fühlst, unterstütze deine Freunde. Vergiss´ bitte nicht, dass du morgen früh um acht Uhr in der Schule sein musst. “ Ralph ging zu seinem Freund Guido und wurde dort auch gut und lieb versorgt.
Ich fuhr wieder in die Klinik, um an der Seite meines Mannes zu sein. Er erschien ruhig und war ansprechbar. Ich erzählte ihm, dass ich bei den Kindern war, was sich ereignet hatte und was für morgen geplant war.
“Morgen” sagte er leise und deutete auf seine Nachttischschublade. Ich sollte sie öffnen. In der Schublade lag ein kleines Päckchen, schön als Geschenk verpackt. Es fiel mir wieder ein, dass Willi mich vor etwa zwei Wochen darum gebeten hatte, ihm 500.-- DM in die Klinik zu bringen. Ich stellte keine Fragen und brachte ihm das Geld.
"Das gibst du bitte Stephen" sagte er. "Du hast dich sicher gewundert, wofür ich das Geld brauche. Da ich weiß, dass du Goldschmuck an Männern nicht so gerne magst, habe ich Schwester Marion gebeten, das für mich zu erledigen. Es ist ein Anhänger mit Stephens Namen, Sternzeichen und dem Geburtsdatum. Ich wollte ihm etwas persönliches schenken."
"Das kannst du ihm doch auch morgen geben, wenn wir dich besuchen", sagte ich - immer noch hoffend, dass es ihm vielleicht besser gehen würde. Ich erkannte, dass er sehr müde war und Ruhe brauchte. Ich hielt seine Hand und ließ ihn schlafen. Willi wirkte ruhig, was vermutlich auf die Medikamente zurückzuführen war.
Inzwischen war es dunkel geworden. Außerhalb der Klinik wurde es, in diesem Moment für mich unangenehm, laut. Mir fiel ein, dass die Offenbacher Kickers, deren Stadion nicht weit entfernt lag, heute ein Spiel hatten. Auf dem Weg ins Stadion brachten sich die Zuschauer in Stimmung. Meine Gedanken schlugen Purzelbäume. Ich erinnerte mich an ein Foto in der Tageszeitung Offenbach Post aus dem Jahr 1959. Willi war im Kreis der feiernden Kickers Freunde zu erkennen als die Offenbacher Kickers in Berlin ein wichtiges Spiel gewonnen hatten. Wie schön wäre es, wenn...
Es klopfte an der Tür und der Arzt kam, um nach meinem Mann zu sehen. Er bot mir an, ein Bett bringen zu lassen. Ich bedankte mich und lehnte ab. Ich erklärte ihm, dass ich nochmal nach Hause fahren werde, auch weil meine Söhne am nächsten Morgen in die Schule müssen und bat ihn, jederzeit anzurufen, falls sich im Befinden meines Mannes etwas ändern sollte. "Ich bin in zehn Minuten hier", sagte ich.
Kurz darauf kam Schwester Marion herein, um sich für heute zu verabschieden und mir zu sagen, dass die Tür zur Einfahrt nachts abgeschlossen wird, ich aber jederzeit klingeln kann. Sie sprach flüsternd, um meinen Mann nicht zu stören. In diesem Moment setzte sich Willi im Bett ruckartig auf, mit einer Kraft, die ich nicht erwartet hätte und "fauchte" uns an mit den Worten: "Hört auf zu flüstern!" Ich beruhigte ihn und erklärte, dass wir ihn nicht wecken wollten. Es war inzwischen 20:00 Uhr und ich fragte nach der Nachtschwester. Es war an diesem Abend ein junger Mann, der für den Nachtdienst zuständig war. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Auch ihm sagte ich, dass man mich jederzeit anrufen kann.
Ich ging wieder zu Willi. Ich wäre lieber bei ihm geblieben und überlegte, ob ich Willis Eltern anrufen könnte, damit sie nach den Söhnen sehen. Sie hätten es sicher getan, aber ich wusste, dass ich die beiden nur aufregen würde und entschied mich dafür nach Hause zu fahren.
Willi sagte ich, dass ich jetzt fahren werde. "Ich will sehen, dass alles in Ordnung ist. Unsere Männer machen sich bestimmt auch schon Sorgen." Willi nickte leicht und ich verabschiedete mich von ihm. "Tschüss, und bis bald. Ich komme so früh wie möglich. Du kannst mich auch jederzeit rufen lassen!" Als ich mich zu ihm beugte, stellte ich fest, dass seine Umarmung sehr schwach war. Hilflos wie ich war, sagte ich ihm noch ein paar liebe Worte und ging. Ich war mir sicher, dass ich ihn in ein paar Stunden wiedersehen und alles irgendwie weitergehen würde.
"Wie geht´s Papa?" war Ralphs Frage als ich nach Hause kam. "Nicht gut, er ist sehr schwach!" Im selben Moment klingelte das Telefon. Ich dachte sofort an die Klinik. Es war Stephen, der wissen wollte, ob es in Ordnung sei, wenn er noch bis Mitternacht bleiben würde. "Meine Freunde wollen mir noch zum Geburtstag gratulieren." Nach kurzer Überlegung sagte ich ihm, dass er bleiben darf, sich jedoch sofort danach auf den Heimweg machen solle. Mein Gedanke bei dieser Entscheidung war - ein bisschen Geburtstag soll er haben. Kurz nach zwölf war er zu Hause und fragte nach seinem Vater. "Können wir ihn heute besuchen?" wollte er wissen. "Ich hoffe es, er ist sehr schwach!" antwortete ich. "Jetzt erst mal ab ins Bett, Geburtstagskind, es ist sehr spät und ich muss euch früh wecken, damit ich zu Papa fahren kann."
Es war eine sehr unruhige Nacht und ich überlegte ständig, ob ich in die Klinik fahren soll oder darauf warten, dass man mich anruft. Geplagt von meinen Gedanken lief ich im Haus rauf und runter. Die Tatsache, dass bisher niemand angerufen hatte, versuchte ich als gutes Zeichen zu sehen. Ich ging ins Bad und bereitete mich vor, um in die Klinik zu fahren. Ich weckte die Buben und sagte ihnen, dass ich Frühstück für sie gemacht habe und jetzt zu Papa fahren werde. "Schlaft nicht wieder ein!"
Ich ging nach unten und öffnete die Tür. In dem Moment klingelte das Telefon und ich ahnte, dass es die Klinik sein würde. Der Arzt meldete sich und sagte mir: "Frau Voltz, ich muss ihnen leider mitteilen, dass ihr Mann heute Morgen verstorben ist."
"Warum hat mich niemand angerufen? Ich hatte darum gebeten und wäre jederzeit gekommen!" reagierte ich heftig. Er erzählte mir, dass der Pfleger, der in dieser Nacht Dienst hatte, jede Viertelstunde nach meinem Mann gesehen hatte. Er war um 4:45 Uhr im Zimmer als er noch lebte, um 5:00 Uhr sah er wieder nach ihm und er war verstorben."
Ich musste es akzeptieren und machte mir Vorwürfe, dass ich nicht einfach in die Klinik gefahren war. "Ich komme sofort”, sagte ich dem Arzt. Zuvor musste ich unseren Kindern die Nachricht überbringen. Sie reagierten ihrem Naturell entsprechend. Stephen emotional, Ralph nahm mich in die Arme und sagte kein Wort. Wir entschieden, dass ich alleine in die Klinik fahren würde und unsere Kinder den Papa in Erinnerung behalten würden, so wie sie ihn gekannt und geliebt hatten. Danach rief ich noch Willis Eltern an und übermittelte die traurige Nachricht. Sie versprachen nach Heusenstamm zu kommen, während ich mich um meine Pflichten kümmere. Den Söhnen gab ich schulfrei.
Mir fielen Willis Worte ein. Irgendwann zu Beginn seiner Erkrankung sagte er zu mir: "Ich habe Angst, dass du das nicht schaffst!" "Wie meinst du das?" fragte ich ihn. "Ja, wenn ich mal nicht mehr da bin. Ob du das alles hinbekommst. Das macht mir Sorgen!" Ich war entsetzt über die Gedanken, die er sich machte und reagierte entsprechend: "Das hat noch lange Zeit. Und sollte es mal so weit sein, werde ich es schon "hinbekommen".
In der Klinik angekommen, meldete ich mich an und ging mit Schwester Marion nach oben. Sie bat mich, alle persönlichen Dinge mitzunehmen und von meinem Mann Abschied zu nehmen. Sie blieb im Flur und wartete auf mich. Ich ging zu Willi und sprach zu ihm, so, als könnte er mich noch hören. "Ich verspreche dir, dass ich alles dazu beitragen werde, damit es unseren Kindern gutgeht. Ich will dich nicht enttäuschen. Unsere Kinder sind meine Priorität."
Ich verabschiedete mich von Arzt und Schwestern der Klinik. Schwester Marion bat mich, das Beerdigungsinstitut zu informieren, damit mein Mann abgeholt werden kann. Ich nickte und versprach, dass ich mich um alles kümmern würde. In Heusenstamm angekommen parkte ich vor der Apotheke, die sich in der Nachbarschaft des Pietätshauses befindet. Ich ging zuerst zu meinen Apothekerinnen, um ihnen zu berichten und mich zu bedanken für ihre Unterstützung. Sie gaben mir ein Päckchen Beruhigungsmittel. Ich erklärte, dass ich solche Medikamente noch nie genommen habe und damit auch nicht anfangen werde. "Nur für den Fall..., wenn Sie´s nicht brauchen, bringen Sie es zurück!" Sie gaben mir noch das Versprechen mit auf den Weg, dass ich jederzeit anrufen darf, wenn ich Hilfe brauche.
Ich ging zum Beerdigungsinstitut und klingelte. Es dauerte eine Weile, bis mir eine ältere Dame öffnete. Ich sagte ihr, worum es geht. "Ach, das hab´ ich auch grad alles hinter mich gebracht!" Vielleicht war es ihr Versuch, mich zu trösten. Ich fühlte mich unwohl in diesen Räumen und dachte nur - da musst du durch. "Wir müssen auf die andere Straßenseite, da ist unser Sarglager", erklärte sie mir und ich folgte. Sie zeigte mir alles, was es an Särgen gab und erklärte mir die Holzart und natürlich auch die Preise. "Dieser hier ist aus Eiche und kostet auch entsprechend. Das braucht man nicht unbedingt. Die gehen doch alle gleich schnell kaputt."
"Den nehme ich!" Ich wollte so schnell wie möglich alles erledigen und weg von diesem Ort.
Wir brauchen noch ein Hemd für ihren Mann und Socken gibt´s dazu auch. Sie kosten neun Mark!"
"Legen Sie alles zusammen was Sie brauchen", bat ich die Frau. Lieber hätte ich sie gefragt, wozu ein toter Mensch noch Socken braucht. Sie können die Füße nicht mehr wärmen. Ich war stattdessen ruhig und unterschrieb die von ihr gemachten Notizen. Wieder im Büro angekommen, besprachen wir noch einige Dinge wie z.B. den Musikwunsch. Ich hatte mir darüber keine Gedanken gemacht. "Sagen Sie bitte dem Organisten, er solle ein paar schöne Lieder aussuchen", bat ich sie. Ich war froh, als wir alles besprochen hatten und ich diesen düsteren Raum verlassen durfte. "Mein Schwiegersohn holt ihren Mann ab und kommt später noch zu Ihnen heim, um alles Weitere zu besprechen." Ich bedankte mich und fuhr nach Hause.
Als Nächstes musste ich den Verlag informieren. Ich rief den Verlagsleiter Winfried Blach an. Er war geschockt. Hatte man doch immer wieder die Hoffnung und ganz besonders den Wunsch gehabt, dass es wieder aufwärts gehen würde - wissend, dass es eine schwerwiegende Erkrankung war. Ich konnte ihn sehr gut verstehen. Herr Blach sagte mir, dass er sich darum kümmern würde, die Autoren zu informieren. "Das müssen Sie nicht machen!"
Es dauerte keine halbe Stunde, bis der erste Anruf eines Autors kam. Er sprach mir sein Mitgefühl aus und nach einer kurzen Pause stellte er die Frage: "Sag´ mal, weißt du schon, wer die Bücher in Zukunft bearbeiten soll. Hast du da schon etwas gehört?"
Diese Frage, zu diesem Zeitpunkt, entsetzte mich und ich antwortete entsprechend: "Nein, ich habe keine Ahnung. Du musst dich mit dem Verlag in Verbindung setzen!"
Von dem damaligen Cheflektor, Werner Müller Reymann, hatte ich erfahren, dass man gerne Klaus Mahn mit der Bearbeitung der Silberbände beauftragt hätte. "Wir halten ihn für den Fähigsten. Das Problem ist die Distanz. Wir werden wahrscheinlich den Herrn Hoffmann damit beauftragen. Es sollte auch kein Autor sein, der sich selbst in Vorteil bringen würde!"
So wurde es entschieden und Horst Hoffmann hat seine Sache gut gemacht.
Ich ging nach unten zu meinen Söhnen und den Schwiegereltern. Ich hatte mich daran erinnert, dass heute ein Abschlussball der Tanzschule war und Stephens Partnerin auf ihn warten würde. Wenn er nicht kommt, steht das Mädchen alleine da. Es war wieder einer der Momente, in denen ich mich fragte - wie würde Willi entscheiden? Ich fragte meinen Sohn, ob er das hinbekommen könnte. Wenigstens die Pflicht und danach kommst du wieder nach Hause. Ich rief unsere Freunde in der Nachbarschaft an, erzählte von unserem Verlust und fragte sie, ob sie Stephen als Elternersatz begleiten würden. Sie übernahmen die Aufgabe gerne.
Es klingelte und ich ging zur Tür. Der Herr vom Beerdigungsinstitut stand vor der Tür. Ich hatte ihn schon fast vergessen. Wir besprachen alles was wichtig war. Er machte einen professionellen Eindruck und half mir, diesen ganzen Papierwust zu verstehen und zu bewältigen.
Ralph, der sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, kam nach unten. "Möchtest du etwas essen?" fragte ich. Während ich eine Kleinigkeit zubereitete, klingelte es wieder. Unsere Freunde Ute und Peter standen vor der Tür. Ich hatte sie informiert und sie wollten mich an diesem Abend nicht alleine lassen. Ich war ihnen sehr dankbar.
Ich informierte sie, dass die Beisetzung am Dienstag um 1:00 Uhr sein würde. Die Familienmitglieder und Freunde hatte ich inzwischen alle informiert und darum gebeten, dass man mich beim Informieren unterstützt. Die Todesanzeige hatte ich für ein Erscheinungsdatum nach der Beisetzung angegeben. Alles was ich organisierte war von dem Wunsch begleitet, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Später wurde mir bewusst, dass ich einige Entscheidungen anders hätte treffen sollen. Meinen Schwiegervater bat ich, mich zum Restaurant zu begleiten, das ich ausgesucht hatte, um die Trauergäste zu bewirten. Es lag mir nahe, dass Opa Voltz das Gefühl behält, dass er dazu gehört und dass er weiterhin eine wichtige Person für mich und meine Kinder sein wird.
Ich ahnte, dass ein Restaurant nicht ausreichen würde und hatte für die Fußballfreunde in der Vereinsgaststätte reserviert.
Als wir am 27. März am Friedhof ankamen, war ich erstaunt, wie viele Menschen bereits anwesend waren. Familie, alte Freunde, neue Freunde, Fußballer von der Rosenhöhe, Willis Jugendteam, Nachbarn, Kollegen und fast die gesamte Perry Rhodan - Redaktion.
Das Wetter war nicht auf unserer Seite. Die Temperatur konnte man winterlich nennen. Morgens hatte sich der Regen sogar mit Schneeflocken vermischt. Ich entschied mich, vor meinem Friseurbesuch noch schnell nach Offenbach zu fahren und mir einen schwarzen Übergangsmantel zu besorgen. Stephen und Ralph bekamen Pullover, die sie unter ihren Jacketts wärmen sollten.
Nachdem ich viele Menschen begrüßt hatte, zog ich mich noch einmal zurück, um mich ein letztes Mal von meinem Mann zu verabschieden. Ich entschuldigte mich bei ihm, dass ich es zugelassen hatte, ihn in ein solches Hemd zu stecken. Es wäre in seinem Sinn gewesen, ihn bekleidet mit Jeans, seinem Lieblingsgürtel und einem Sporthemd beizusetzen. Ich bat Willi um Verständnis. Damals gab es noch Regularien - man konnte nicht alles selbst entscheiden.
Es war kurz vor 13:00 Uhr und ich wusste, dass es an der Zeit war unsere Plätze einzunehmen. Die Halle war gefüllt und viele Trauergäste mussten draußen stehend teilnehmen. Herr Müller-Reymann kam zu mir und fragte, ob ich bitte noch mal kurz raus gehen könnte: "Der Herr Mahn möchte Ihnen die Hand drücken und kondolieren!" Ich verstand nicht, warum das jetzt sein musste, ging aber hinaus. Es war nicht zu übersehen, dass es dem Herrn Mahn nicht gut ging. Wie ich später hörte, kam er trotz einer schweren Grippe nach Deutschland geflogen, um seinen Freund und Kollegen zu verabschieden.
Ich ging zurück zu meinem Platz. Die Trauerzeremonie begann und spätesten als die altersschwache Orgel ihr Spiel startete, war mir bewusst, dass es ein Fehler war, mich nicht intensiver um die Musik gekümmert zu haben.
Ich erinnerte mich plötzlich daran, dass Willi vor längerer Zeit als wir Musik im Radio hörten, den Wunsch geäußert hatte: "Dieses Lied hätte ich gerne bei meiner Beerdigung gespielt." Ich wollte davon nichts hören. "Wenn es irgendwann einmal so weit sein sollte, hast du vielleicht einen ganz anderen Wunsch", antwortete ich.
Es kam der Moment, dass die Zeremonie in der Halle beendet war und wir dem Sarg zu seinem endgültigen Platz folgen mussten. Es nahm etwas Zeit in Anspruch, bis sich die große Trauergemeinde versammelt hatte. Nachdem der Trauerredner seine Ansprache beendet hatte, wurde der Sarg langsam nach unten gelassen. Wer es miterlebt hatte, sprach noch lange davon. Genau in diesem Moment schickte der Himmel einen Blitz und einen heftigen Donner zu uns herunter.
Eben hat sich Willi von uns verabschiedet, dachte ich.
Es hatte begonnen leicht zu regnen. Ich ging mit meinen Kindern zum Grab. Oma und Opa Voltz folgten uns und ich spürte, dass meine Schwiegermutter an meiner Seite stand und mich umfasste. Sie wollte mich stützen und ich nahm es gerne an. Wir schickten Willi unseren letzten Blumengruß und machten Platz für die Trauergäste, die Abschied von ihm nehmen und uns kondolieren wollten.
Ich war stolz auf meine Buben und auch auf meine Schwiegereltern, die tapfer diese schwere Aufgabe bewältigt hatten. Die große Gruppe löste sich langsam auf. Wir fuhren in das Restaurant im Schloss, wo unsere Familie sowie Autoren und Verlagsmitglieder auf uns warteten.
Unser Freund Siegfried kümmerte sich um unseren Freundeskreis, der sich in einem anderen Lokal treffen wollte. Ich hoffte, dass alle zufrieden sein würden und Verständnis dafür hatten, dass ich nicht überall dabei sein konnte.
Bevor wir nach Hause fuhren, gingen wir nochmals zum Friedhof. Das Grab war geschlossen und mit einem Blumenmeer bedeckt. Ich wusste, dass ich diesen Platz in Zukunft oft besuchen würde. Wir fuhren zu uns nach Hause und ein Teil der Familie blieb noch eine Weile bei uns. "Können wir euch alleine lassen?" fragten sie als sie sich auf den Weg nach Hause begeben mussten. "Selbstverständlich", sagte ich, "wir kommen klar!" Ich wünschte eine gute Heimfahrt und brachte sie zum Auto.
Als ich ins Haus zurückkam, empfing mich eine ungewohnte, aber für den Moment angenehme Ruhe. Stephen und Ralph hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Als sie mich hörten, kamen sie wieder nach unten und setzten sich zu mir.
"Glaubt ihr, dass wir das alles hinbekommen?" fragte ich. "Es bleibt uns nichts anderes übrig!" war die Antwort.
Es war kein Abend, an dem noch viel gesprochen wurde. Es gab einiges zu verarbeiten und ich hoffte, dass meine Buben und ihre Mutter dies schaffen würden.